„Von jetzt an fahren Sie auf eigene Gefahr – wir können in diesem Gebiet nicht für Ihre Sicherheit garantieren!“ Die türkischen Sicherheitskräfte, von denen die Gütersloher Delegation auf Ihrer Reise durch den Tur Abdin begleitet wird, bleiben am Militärstützpunkt zurück. Die Delegation setzt ihre Fahrt in das Militärsperrgebiet fort, in dem sich sieben christliche Dörfer befinden. Nachdem sie in den 80er Jahren vollständig verlassen worden waren, kehrt seit einigen Jahren wieder etwas Leben in diese Dörfer zurück. Die Sicherheitslage, das bestätigen alle Gesprächspartner, hat sich verbessert. Einige der heute in Europa lebenden aramäischen Christen haben ihre Häuser wieder hergestellt oder neue gebaut.
Das Gebiet wirkt – obwohl es noch immer Sperrzone ist – auch an diesem Abend im Sonnenuntergang völlig friedlich. Von den heftigen Auseinandersetzungen zwischen PKK und türkischer Armee, unter denen auch die im Tur Abdin lebenden Aramäer litten, ist heute nichts mehr zu spüren. Doch die Augenzeugen von damals erinnern sich noch, als sei es gestern gewesen: Manchmal hätten die Kämpfer der PKK zum Beispiel an die Türen der Häuser geklopft und Lebensmittel verlangt. Man habe sich bedroht gefühlt und ihnen gegeben, was sie haben wollten. Bei den türkischen Soldaten habe das den Eindruck erweckt, dass man die PKK unterstütze. Verhaftungen, Folterungen und Gefängnisstrafen konnten die Folge sein. „Wir sind zwischen die Fronten geraten. Diese Situation hat dazu geführt, dass viele Aramäer sich gezwungen sahen, ihre Heimat zu verlassen“, fasst einer zusammen.
Zum Hintergrund – der Tur Abdin: Der Tur Abdin, ein Kalksandsteingebirge, liegt im Südosten der Türkei, nahe der Grenze zu Syrien. Übersetzt steht der Name für „Berg der Knechte Gottes“. Schon im 1. Jahrhundert wurden die dort siedelnden Aramäer zum Christentum bekehrt. Aus den christlichen Gemeinden in diesem Gebiet ging die syrisch-orthodoxe Kirche hervor, der die Mehrheit der Aramäer auch heute noch angehört. Besonders im 19. und 20. Jahrhundert wurden die Christen in der Region mehrfach Opfer gewalttätiger Übergriffe. Viele Aramäer starben im Jahr des Schwertes 1915 – bekannt als Völkermord an den Armeniern. Aramäische Dörfer wurden durch Tod und Vertreibung entvölkert. Seit den 1970er Jahren fand dann ein Exodus der Christen in die Nachbarländer, die USA, nach Europa und Australien statt. Viele ehemals christliche Dörfer wurden von Kurden besetzt oder vom Militär zerstört – mit Ausnahme der sieben Dörfer im Militärsperrgebiet. Heute leben im Tur Abdin noch etwa 3.000 syrisch-orthodoxe Christen. Etwa doppelt so viele Aramäer leben im Kreis Gütersloh, in Deutschland sind es ca. 60.000-70.000 und in Europa ca. 300.000 Aramäer.
„Ich bin 80 Jahre alt“, erzählt ein Mann, der heute wieder einen großen Teil des Jahres im Tur Abdin lebt. „Wenn Sie mich nach meiner Heimat fragen, dann sage ich: Deutschland. Ich bin der Bundesrepublik sehr dankbar, dass man uns damals Asyl gegeben hat, und ich habe die besten Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht. Aber ich bin froh über die aktuellen Entwicklungen, und dass ich heute wieder die Chance habe, dort zu leben, wo ich aufgewachsen bin.“ Das kann der Bundestagsabgeordnete Ralph Brinkhaus, der die Delegation leitet, gut verstehen. Insbesondere freut ihn aber auch das klare Bekenntnis zur Heimat in Deutschland: „Ich kann den Dank nur zurückgeben. Im Kreis Gütersloh engagieren sich viele Aramäer ehrenamtlich, unter anderem in allen politischen Parteien. Das ist eine echte Bereicherung!“ Hervorzuheben sei auch die gute Zusammenarbeit zwischen allen christlichen Kirchen vor Ort. Auch das habe sicher dazu beigetragen, dass Gütersloh schnell zur neuen Heimat wurde.
Auch Eliyo Cetin, Rechtsanwalt in Gütersloh, kennt das bewegende Gefühl, in das Dorf seiner Kindheit zurückzukehren. Mit acht Jahren hat er es verlassen; zunächst zog die Familie nach Istanbul, später dann nach Deutschland. Nach über 30 Jahren steht er jetzt zusammen mit der Delegation wieder vor der Kirche von Bakisyan. Auf den ersten Blick hat sich vieles verändert. Aber als er auf dem Dach des – heute verfallenen – Hauses seiner Familie steht, kann er sich noch genau erinnern, wo er als Kind geschlafen hat. Ischo Can, der bereits in Gütersloh geboren wurde, hat diese Erinnerungen nicht. Aber auch ihm steht das Glück in die Augen geschrieben, als man ihm das Haus seiner Familie zeigt. Vielen der deutschen Delegationsteilnehmer wird erst jetzt richtig bewusst was es heißt, die Heimat verlassen zu müssen.
Ralph Brinkhaus sagt: „Ich habe schon viel über den Tur Abdin und das Schicksal der Aramäer gehört. Aber es ist etwas ganz anderes, sich einmal vor Ort zu informieren und ein Bild von der Lage zu machen. Vieles wird mir erst jetzt richtig klar.“ Es freue ihn sehr, dass sich die Sicherheitslage verbessert hat und es nun möglich ist, das Erbe der syrisch-orthodoxen Christen des Tur Abdin zu erhalten. Denn in den letzten Jahren sind viele Kirchen und Klöster aufwendig, mit viel Eigenleistung und großer Unterstützung durch die in Europa lebenden Aramäer restauriert worden. „Ich bin begeistert von der Arbeit, die hier geleistet worden ist. Dieses Erbe ist von großer Bedeutung für alle Christen“, so Brinkhaus. „Die syrisch-orthodoxe Kirche ist die älteste christliche Kirche außerhalb Jerusalems. Die Klöster sind fast 1.700 Jahre alt. Sie stehen teilweise auf den Grundmauern von Tempeln aus vorchristlicher Zeit. Es ist schon ein bewegendes Gefühl, zum Beispiel im Kloster Mor Gabriel zu Gast zu sein und zu übernachten – einem der ältesten Klöster der Welt.“ Er könne nur jeden ermutigen, sich vor Ort einmal selbst einen Eindruck zu verschaffen.
Zum Hintergrund – das Kloster Mor Gabriel: Das Kloster Mor Gabriel wurde im Jahre 397 gegründet und erhielt im 7. Jahrhundert seinen Namen – nach dem dort residierenden Bischof Gabriel (Heiliger Gabriel). Das Kloster war und ist ein bedeutendes geistiges und kulturelles Zentrum der syrisch-orthodoxen Christen. Im Jahr des Schwertes 1915 wurden alle Bewohner des Klosters umgebracht, 1919 wurde es wieder bezogen. Zwischen 1950 und 2000 wurden Wasser- und Stromversorgung eingerichtet, eine Straße zum Kloster gebaut und Gärten zur Selbstversorgung der Bewohner angelegt. Derzeit sind drei Gerichtsverfahren anhängig, die das Kloster betreffen. Viele Beobachter sind der Auffassung, dass von den gegnerischen Parteien eine Schließung des Klosters oder eine massive, das Kloster in seiner Existenz bedrohende, Verschlechterung der Rahmenbedingungen verfolgt wird. Der Deutsche Bundestag hat sich in der 16. Legislaturperiode eindeutig zum Kloster Mor Gabriel bekannt. Auch Bundestagspräsident Prof. Lammert hat im Februar diesen Jahres einen entsprechenden Appell an die Türkei gerichtet. Der Rat der Stadt Gütersloh hat 2009 eine Resolution verabschiedet und sich darin für die Achtung der Minderheitenrechte von syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei ausgesprochen.
Bischof Timotheos Samuel Aktas hat die Delegation aus dem Kreis Gütersloh nach Einbruch der Dunkelheit um sich herum versammelt, um seinen Sorgen und seinem Ärger Luft zu machen. Aufgrund der anhängigen Gerichtsverfahren sieht er die Existenz des Klosters bedroht. Ralph Brinkhaus verspricht, dass man sehr genau beobachten werde, ob die Verfahren fair geführt werden. Die Türkei müsse wissen, dass sich das Tor nach Europa nur öffnet, wenn die Religionsfreiheit und die Rechte von Minderheiten garantiert sind. Zum Abschied dankt der Bischof für den Besuch: „Besuche wie dieser garantieren unsere Sicherheit, denn sie zeigen, dass die europäischen Länder sich für den Schutz der Klosters und die Achtung unserer Rechte als christliche Minderheit in der Türkei interessieren“.
Aus demselben Grund sollte eine Woche später auch der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, den Tur Abdin bereisen und das Kloster Mor Gabriel besuchen. Wegen des Rücktritts von Bundespräsident Horst Köhler musste der Besuch jedoch leider verschoben werden. {Bild: Ralph Brinkhaus mit Pfarrer Gök von der syrisch-orthodoxen St. Maria-Gemeinde in Gütersloh}.
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