Freitag, 2. Juli 2010

Semun Aslan (Geb. 1921)

"Der kommt nicht wieder", haben sie seiner Frau immer wieder gesagt
Armani-Anzug, Weste, Krawatte, maßgefertigter Hut. Was für ein feiner Mann, dachten die Leute auf der Straße. "Das Äußere war ihm wichtig", sagt sein Sohn Ercan, eins von Semuns zehn Kindern, "es war ein Spiegel seiner inneren Disziplin."
Schon der Anfang ist schwer. 1921 während der Christenverfolgung in der Türkei, wird Semun in die syrisch-orthodoxe Gemeinschaft der Aramäer hineingeboren. Er ist Türke - und er wird Christ, der die Bibel liest, immer wieder. In Bsordin, nahe der syrischen Grenze, wächst Semun beim Großvater, dem Erzpriester des Dorfs, auf. Es ist eine harte Kindheit geprägt von Feldarbeit und Religion. Der Großvater lehrt ihn lesen und schreiben, unterweist ihn religiös und öffnet seinen Blick. 30 Familien leben hier zwischen 25 Klöstern und Kirchen. 1936 stirbt der Ziehvater. Semun ist 13 Jahre alt. Das Dorf hilft.
Mit 21 Jahren heiratet er, doch das Glück währt nicht lange. Denn im folgenden Jahr wird ein türkischer Soldat im Dorf ermordet. Jemand hat Semun in der Nähe gesehen, es wird ein Haftbefehl ausgestellt. Semun glaubt nicht an Gerechtigkeit für Aramäer vor einem türkischen Gericht. Er flüchtet nach Syrien, heuert bei der französischen Fremdenlegion an.
Zu Hause wartet seine Frau. "Der kommt nicht wieder", sagen sie im Dorf. Und sie irren sich: 1947 steht Semun vor ihrer Tür. Kurz darauf wird er verhaftet und mit Schraubfesseln in die Provinzstadt gebracht. Wieder heißt es: Der kommt nicht wieder. Doch Semun kann seine Unschuld beweisen. Das Dorf feiert und kehrt zum Alltag zurück, Semun nicht. Er hat im Ausland viel Neues gesehen. Unerhört sei das, tuscheln die Nachbarn, als er sich mit seiner Frau zusammen zum Essen setzt. Dass er sich über die ersten vier Kinder, allesamt Töchter, freut, halten sie für verrückt. Mit Semun gelangt die große Welt ins Dorf. "Er war ein Vordenker und es war ihm egal, ob die anderen über ihn lachen", sagt sein Sohn. Sie lachen nicht mehr, als Semun eine Kornmühle baut. Das erspart den Bauern mühsame Wege, und Semun ist ein gemachter Mann.
1968 aber übernimmt er sich mit einer neuen, größeren Mühle. Alles muss er verkaufen. Die Familie zieht nach Medyat, eine Stadt mit 20 000 Einwohnern, vor allem Aramäer. Und wieder fängt er von vorne an. Semun wird Händler für Rohleder, Felle und Baumwolle. Die Arbeit als Mittler zwischen den bäuerlichen Produzenten und den Großhändlern ist genau die richtige für ihn. Er kann reisen, Leute treffen und verhandeln, und er kann seiner Familie ein gutes Leben sichern. Sein Stadthaus wird Bindeglied zum Dorf, aus dem er stammt, und Treffpunkt der Aramäer, Tag und Nacht geöffnet. Wer krank ist oder zu Ämtern muss, kann hier um Hilfe bitten. "Manche Leute blieben wochenlang. Das war selbstverständlich", sagt der Sohn. Ende der siebziger Jahre wird es für die Aramäer schwieriger in Medyat. "Wir gehörten zu den ersten Familien, die als religiöse Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Heute leben nur noch 1000 Aramäer in Medyat."
Nach einer Zwischenstation in Paderborn landet die Familie 1982 in Berlin. Semun ist nun ein Geschäftsmann ohne Geschäft und ohne Arbeitserlaubnis - und er ist dennoch zufrieden. "Uns Kindern hat er immer wieder gesagt, welch ein Glück es ist nach Deutschland gekommen zu sein." Als Vorsitzender der aramäischen Kirchengemeinde in Berlin findet der weltoffene Mann noch einmal eine Aufgabe. Er sorgt mit dafür, dass die Gemeinde in der Potsdamer Straße ihren festen Sitz bekommt. Dann macht er Platz für die Jüngeren und kümmert sich um seine kranke Frau.
Doch jeder weiß: Wer Rat braucht, kann sich weiterhin an Semun wenden. Kaum ein Aramäer in Deutschland, der ihn nicht kennt. "Wenn ich mit ihm unterwegs war, sammelten sich Leute um ihn, er konnte präzise und detailliert von den alten Zeiten und den ,rostigen Dingen’, wie es im Aramäischen heißt, erzählen." In der Bibel kennt er sich sowieso aus. Mit seinem fotografischen Gedächtnis verblüfft er Theologen und Bischöfe. "Bei großen Treffen kamen Menschen, die ich nicht kannte, zu ihm und küssten ihm die Hand." Ungebrochen bleibt Semuns Neugier und seine Disziplin. Mit weit über 80 kümmert er sich um seine Kleidung, rasiert sich täglich, bringt seine Hüte zum Auffrischen ins KaDeWe. Er bittet seine Enkelkinder, ihm Poker beizubringen, versucht sich an ihrer Playstation. Angst hat er nur davor, alt, gebrechlich und unselbstständig zu werden. Alt wird er, gebrechlich nicht. Mit 89 Jahren stirbt Semun Aslan.
Tagesspiegel.de / 02.07.2010

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