Freitag, 10. Juni 2011

Aramäer könnte ins türkische Parlament einziehen


Foto: pr Der Aramäer Erol Dora will ins türkische Parlament gewählt werden. Das Foto zeigt sein Wahlplaka


Autor: Boris Kálnoky| 18:54

Christ könnte ins türkische Parlament einziehen

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat ein Christ Chancen auf einen Sitz im türkischen Parlament. Doch das heißt nicht zwangsläufig, dass das Land liberaler wird.
Es könnte ein wunderbares Aushängeschild für eine freiere, tolerantere Türkei sein: Ein Christ im Parlament.

Wenn am 12. Juni gewählt wird, wird es spannend in der südosttürkischen Stadt Mardin. Dort kandidiert als Unabhängiger der 47-jährige Rechtsanwalt Erol Dora. Er ist Aramäer und Christ, und allem Anschein nach hat er gute Chancen, genügend Stimmen zu bekommen.

Das wäre eine schöne Geschichte für die neue, islamischere Türkei, deren Regierungspartei AKP dem Anspruch nach ja auch freier sein will, und tolerant gegenüber allen Minderheiten und Religionen.
Nur, es gibt einen Haken: Unterstützt wird Dora nicht von der AKP, sondern von der kurdischen BDP. Und die hat gerade unter massivem Druck der Regierung zu leiden.
Christen galten früher als Agenten ausländischer Mächte BDP-Vizechef Nihat Ogras wurde vor wenigen Tagen verhaftet wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“, und die Parlamentskandidatin Hatip Dicle wurde gerade zu fast zwei Jahren Haft verurteilt, wegen „PKK-Propaganda“. Tatsächlich gilt die BDP als politischer Arm der Terrorgruppe PKK.

Trotzdem ist die Kandidatur des Aramäers ein deutliches Zeichen für eine – freilich sehr relative – Verbesserung der Lage der christlichen Minderheiten im Land. Unter dem früheren „kemalistischen“ Regime wäre es wohl gar nicht erst zur Kandidatur gekommen. Christen galten damals mehr oder minder als gefährliche Agenten ausländischer Mächte.

Doch neuerdings gibt es Fortschritt. Weniger als ein Prozent der Türken sind Christen, aber von diesen wenigen Hunderttausend hatten sich diesmal eine ganze Reihe von Bewerbern um eine Kandidatur für das Parlament bemüht. Dass keiner es schaffte, unter die 1500 zu gelangen, die von den Parteien schließlich aufgestellt wurden, zeugt von der Zähigkeit der Vorurteile oder einfach von den Mehrheitsverhältnissen. Parteien wollen ja auch, dass ihre Kandidaten siegen. Aber dass christliche Bewerber es überhaupt versuchen, dass zeugt von gewachsenem Selbstvertrauen und das hat viel mit der Politik der AKP zu tun.

Es ist eine Politik, die – dem Anspruch nach – Religionen unterstützt, weil sie selbst religiös geprägt ist. Aber nur teilweise: Alewiten etwa haben es schwerer als zuvor. Sie gelten als politische Gegner, da sie Angst haben vor dem sunnitischen Islam der AKP und Schutz suchen, indem sie säkulare Parteien wählen. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu soll selbst Alewit sein, der Wahlkampf besteht dieser Tage zu einem guten Teil aus Verunglimpfungen dieser Glaubensgemeinschaft im Allgemeinen und Kilicdaroglus im Besonderen.

Auch Griechisch-Orthodoxe haben es schwer, sie gelten als besonders suspekt. Wie armenische Christen dürfen sie in der Türkei keine Priester ausbilden. Weiterhin haben christliche Glaubensgemeinschaften keinen Rechtsstatus und können kein Eigentum besitzen.

"Türkische Lösungen"

Wo es dennoch Kirchen und Glaubensgemeinschaften gibt, funktionieren sie aufgrund komplizierter „türkischer Lösungen“, halb illegal, und immer in Gefahr, enteignet oder aufgelöst zu werden. Die mehreren Zehntausend Kirchenimmobilien, die noch in den 30er-Jahren gezählt wurden, sind heute überwiegend enteignet.
Dennoch: Der türkische Staat renoviert Kirchen, erlaubt seit einigen Jahren wieder deren Gebrauch für Gottesdienste, statt als Museum oder Warenlager.
Ist die AKP-Regierung nun Freund oder Feind? Darüber zerbrach sich der orthodoxe Patriarch Bartholomaios I. lange den Kopf. „Ich glaube an die Ehrlichkeit von Ministerpräsident Erdogan“, sagte er "Welt Online“ im Jahr 2004 und gab die Schuld an allen Rückschlägen dem „Staat im Staat“, also letztlich den Militärs.
Deren Einfluss schwindet nun, aber dennoch änderte sich wenig – Batholomaios begann zu verzweifeln. So kam es im Jahr 2009 zu seinem vielzitierter Ausruf, die Türkei wolle seine Gemeinschaft „kreuzigen“.

Zunehmend Übergriffe auf Christen

Dann kam doch ein wenig Bewegung, der Patriarch dankte ausdrücklich der türkischen Regierung, als erstmals seit Jahrzehnten ein Gottesdienst im orthodoxen Sümela-Kloster (Nordtürkei) erlaubt wurde. Aber Ende Mai dieses Jahres hielt er eine geharnischte Rede, in der er endlich Taten forderte: die Rückgabe dreier Kirchen im Istanbuler Stadtteil Galata und die seit langen Jahren versprochene Öffnung des Priesterseminars auf Heybeliada.

Hoffen kann man immer – aber allein von 2001 bis 2005 verlor das Patriarchat 144 von 144 Immobilienprozessen. Und der teilweisen Liberalität der Regierung stehen zunehmend Übergriffe auf Christen gegenüber.

Der Priestermord von Trabzon 2006, die Morde an vier evangelikalen Missionaren 2007, der Mord am katholischen Bischof Padovese im vergangenen Jahr, all das mögen dunkle Machenschaften gewesen sein, um die islamisch geprägte Regierung zu diskreditieren – aber solange die Regierung selbst nicht deutlich mehr tut, um die christlichen Gemeinschaften zu stärken, wird ihr Bekenntnis zur Glaubensfreiheit hohl klingen.

WELT, 9.6.2011

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